Interview mit Prof. Dr. Martin Grothe von complexium

Martin_Grothe_Kopie von A3CG3950 Prof. Dr. Martin Grothe … auf der Suche nach „Ordnungsmustern im Chaos“: Begeistert vom möglichen (Wissens)Vorsprung für EB/PM/Rec, CI, M/MaFo, PR/UK durch Nutzung analytischer Methoden in der Social Media-Dialogrevolution. Geschäftsführer complexium in Berlin. Gast-Prof. an der UdK. Vorstand dcif. Beirat dapm.


Was macht den internen Dialog zwischen Personalern so interessant, um ihn in einer Studie zu analysieren?
Das Spannende ist, dass es eigentlich keinen „internen Dialog“ mehr gibt. Durch die offene Plattform steht ein Thema im Vordergrund und nicht mehr ein geschlossener Zirkel. Soweit die Theorie 😉 Robindro Ullah hatte mit seiner Suppentheorie einen Gegenentwurf formuliert: Der Dialog im Social Web verbindet häufig eher Gleichgesinnte als dass beispielsweise Recruiting-Zielgruppen erreicht werden.

So ist einerseits diese Studie als Suppen-Hypothesentest zu verstehen, ob es so ein relativ geschlossenes PM-Cluster tatsächlich gibt.
Auf der anderen Seite ist es natürlich per se interessant, was Vordenker und Vormacher im Personalbereich an Themen, Fragen und Hinweisen aufwerfen und diskutieren. Die semantische Inhaltserschließung liefert hier einen hypothesenfreien Einblick, quasi Zuhören ohne Bias.

Ich sehe mit diesem analytischen Ansatz eine gute Möglichkeit, in Zukunft – auf einer deutlich erweiterten Quellenanzahl – mit einem regelmäßigen Personal-Themenbarometer frühzeitig Veränderungen der breiteren Personalmarketing/Employer Branding-Agenda aufzeigen zu können. Welches inhaltiche Thema, welches Werkzeug gewinnt in diesem Fachkreis langsam Aufmerksamkeit? Wird Foursquare ein gewichtiges Thema? Wer spricht über die internen Strukturveränderungen? Welches Thema gewinnt langsam Kontur, welches wird erst am Rande erwähnt?

Zudem setzt sich im Personalmarketing immer mehr die Erkenntnis durch, dass man seinen Recruiting-Zielgruppen (off- und online) zuhören sollte, um Themen, Präferenzen und ihre Veränderungen zu erkennen. Dann kann es nur erhellend sein, auch die PM-Szene so abzubilden, um diese Diskussion aufzunehmen. Diesen methodischen Ansatz auf die PM-Autoren selbst abzubilden, war dann ein kleines Zusatzexperiment.

Nur wenige haben die Zeit und Möglichkeit, monatlich mehrere tausend Beiträge zu lesen und sich so selbst ein direktes Bild zu machen. „Zuhören“ im Social Web schließt Einzelbeiträge ein, bedeutet aber auch, sich schnell einen Überblick zu Kernthemen und aufsteigenden Aspekten zu verschaffen. Hierbei helfen neuartige Werkzeuge.

Verändert Social Media den Expertenaustausch fundamental?
Wenn man von den logistischen Aspekten wie Zugang (auch für „Laien“), Reichweite, Verfügbarkeit und (Reise)Kosten einmal absieht, dann ganz klar: Nein.

Das Social Web ist gerade deshalb so erfolgreich, weil sich darin die urmenschlichen Kommunikationsgewohnheiten abbilden (und ausleben) lassen. Dazu zählt, dass es vielen Einzelnen möglich ist, Kommunikationsbezüge mit entfernten Gleichgesinnten aufzubauen und zu unterhalten. Kommunikationswissenschaft und Soziologie sprechen hier von „weak ties“, die Einzelnen Zugang zu entfernten Informationen und dem „System“ insgesamt eine höhere Änderungs- und Anpassungsgeschwindigkeit ermöglichen. (Die Ergänzung bilden „strong ties“, quasi unvermeidbare Beziehungen, Hintergrund ist die Social Network Analysis SNA, ein intensiver Forschungsbereich seit nunmehr über 80 Jahren)

Also: Fundamental nichts Neues. Allerdings ein wunderbarer Rahmen, um gefunden zu werden und „weak tie“-Beziehungen auf einem bisher unbekannten Niveau zu unterhalten. Beides ist essentiell für den Expertenaustausch. Weak ties machen Social Media stark.

Kritiker behaupten der Dialog im Social Web sei durch die erhöhte Geschwindigkeit oberflächlich. Stimmt das?
Wenn wir sagen, dass das Social Web so erfolgreich ist, weil es mittlerweile von sehr vielen Menschen für ihre Alltagsfragen zwischendurch genutzt wird, dann finden dort natürlich Dialoge und Bemerkungen statt, die nicht in jedem Fall mit bemerkenswertem Tiefgang ausgestattet sind. Zu Ende gedacht ist gerade dies aber ein Erfolgsmerkmal.

In der Geschwindigkeitsfrage sollte man auch nicht nur auf die „Impulsfeuerwerke“ wie Twitter und Facebook schauen. Es gibt viele Blogs mit bemerkenswertem Tiefgang, es gibt viele Foren, in denen Themen über sehr lange Zeiträume intensiv behandelt werden. Und es ist gerade die große Zahl solcher Quellen, die den Einsatz semantischer Werkzeuge rechtfertigt, um die Themenräume im Social Web besser zu verstehen.

Wichtig ist aber auch, dass – selbstverständlicherweise auftretende – zu oberflächliche Beiträge nicht auf natürlichem Wege abgebaut, d.h. vergessen werden (wie etwa flüchtige Pausen- oder Kneipengespräche). Diese Nachhaltigkeit vieler Kanäle erschwert das Finden der brillanten Einsichten oder Hinweise, die aber genauso erhalten bleiben und von der Vernetzung besonders profitieren.

Aber gerne breche ich auch eine Lanze für das scheinbar Oberflächliche! Oft als digitales Rauschen verpönt, besteht hier doch eine Möglichkeit, um die oft nur leichten, aber stetigen „Strömungsveränderungen“ in auch sehr großen Beitragsmengen zu untersuchen. Es kann erschlossen werden, wie sich das Spektrum der Alltagsdiskussion, die breite Einstellung zu einem Bereich im Zeitablauf ändert: Etwa die Einstellung zu Umwelt- und Energiethemen, die vorherrschenden Fragen im Karrierekontext, die Themen der Ingenieure oder das Verständnis einzelner Arbeitgebermarken etc.

Das wäre sicherlich ein eigenes Gespräch: Aber neben die Beachtung von Leitmedien, welche das auch sein mögen, muss ein besseres Verständnis der „Schwarmphänomene“ treten.

So lässt sich den in der Frage zitierten Social Web-Kritikern entgegenhalten, dass ihre These im Durchschnitt wohl stimmt, aber die Leuchttürme und der Blick auf das Meer sind des Suchens wert: Das Social Web ist nicht oberflächlicher, sondern meistens schneller, oft breiter und tiefer sowie fast immer länger. … Man könnte auch sagen: Das Social Web bietet eine große Oberfläche – und das ist auch gut so.

Welche wichtigen Erkenntnisse haben Sie aus der Studie gewonnen?
Unsere vorhergehenden Social Media Analysen hatten für das Personalmarketing einzelner Unternehmen spezifische Zielgruppen untersucht (BWLer, Gründer, ITler, Ingenieure, Mediziner). Ergebnis waren jeweils spezifische Anknüpfungspunkte für PM, EB und Recruiting. Diese Auswertung des PM-Fachdialogs geht in eine andere Richtung, zeigt aber auch hier die Möglichkeiten der Inhaltserschließung von großen Beitragszahlen aus unterschiedlichen Quellen.

Diese Erfahrungen – und insbesondere das erhaltene methodische Feedback (Danke!) – werden wir zusammenführen und daraus allgemein einsetzbare Zielgruppen-Analysen aufbauen. … und die Idee eines semantischen PM-Themenbarometers werden wir sicherlich auch aufnehmen. Beides sehr gerne im Dialog mit den Experten im Netz.

Die Blogger-Szene wundert und fragt sich, wie aussagekräftig das Blog-Ranking bei der herangezogenen Verteilung von Google Pagerank und Alexa Ranking ist. Wie kamen Sie zu dem Verteilungsschlüssel?
Da wird natürlich – zu Recht – ein Finger in die Wunde gelegt. Unsere Zielsetzung war absolut primär der Aufbau eines umfassenden semantischen Themennetzes zu der Fachdiskussion im Netz. Hierzu wurden ziemlich genau 1.431 Artikel aus 30 Blogs aufgenommen und weitgehend automatisch ausgewertet. So wird deutlich, welche Aspekte die übergreifende Diskussion prägen, was Kern- und was Randthemen sind. Zu den identifizierten signifikanten Themen (=häufigere Verwendung als im durchschnittlichen linguistischen Gebrauch im Web) lassen sich dann gezielt die passenden Beiträge heranziehen.
Eher am Rande dann die schlichte Sortierung dieser Quellen. Sicherlich kann eine solche Sortierung in Kriterien und Gewichtungen variiert werden: Quantitativ (etwa die Anzahl der Beiträge, die ausgelösten Reaktionen/Kommentare) und insbesondere eine qualitative Einschätzung. Für diese allgemeine Studie sollte ein sehr einfaches Maß genügen, das Vernetzung und Reichweite kombiniert, Vernetzung dabei höher gewichtet, weil die Clusterung ein zentraler Punkt war … hatten wir gedacht. Hierbei nur kurz zu bedenken, dass ein Relevanzmaß nicht unbedingt besser wird, je komplexer es ist: Für die wissenschaftliche Relevanz eines Autors spielen beispielsweise lediglich Zitationen eine Rolle. That’s it. Aber das ist natürlich ein anderes Thema. Aussagen über die inhaltliche Relevanz der Quelle werden damit nicht abgedeckt.
Aber richtig, zumindest ein Aktivitätsmaß wäre gut gewesen. Zudem macht es einen Unterschied, ob eine Quelle nur über PM/EB schreibt oder – eventuell mit sehr hoher Reichweite – zufälligerweise einmal einen entsprechenden Beitrag aufnimmt. Für weitere Hinweise in dieser Richtung sind wir immer offen.
Interessant fände ich auch den Gedanken, das Themennetz der PM-Blogger mit einem Themennetz aus redaktionellen Quellen zu vergleichen. Um dann im Zeitablauf zu schauen, wie lange es dauert, bis die redaktionellen Quellen innovative Themen aufnehmen. Oder ist es anders herum?

Besonders spannend wird der Halbjahresvergleich: Was waren die Top-Themen im ersten Halbjahr, welche Kontexte ändern sich im zweiten Halbjahr – wir werden das Quellen-Ranking anders gewichten und berichten.

Ich denke, dass die semantische Inhaltserschließung insgesamt sogar noch mehr Perspektiven eröffnet, als ein schlichtes Ranking, und würde mich auch hierzu über einen Dialog freuen. Gerne laden wir Interessierte nach Berlin ein, etwa zum nächsten Personalmarketing Impulstag am 9. September.

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  1. […] Pagerank und das Alexa Ranking. Martin Grothe von complexium hat dann auf dem Personalberaterblog Stellung zum Thema genommen. Martin Grothe hat mit der Studie versucht herauszufinden, wie das Thema Personalmarketing durch die […]



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