Stell Dir vor es ist demographischer Wandel und keiner geht hin
Viele Themen im Personalmarketing, Recruitment und Employer Branding werden immer wieder durchs Dorf getrieben. Nicht alle diese Themen schaffen es Wochen später nochmals auf unsere HR-Agenda. Doch der Themenschwerpunkt Demographischer Wandel ist einerseits seit einigen Jahren schon da und andererseits immer noch so ganz weit weg. Es wird oft als Argument für bestimmte Maßnahmen angeführt, jedoch kaum danach gehandelt. Daher habe ich die Anfrage für ein Gastinterview von der weltweit agierenden Unternehmensberatung Towers Watson zur aktuellen Demografiestudie einmal aufgegriffen, um Ihnen die Tatsachen zum demograhischen Wandel und zur absolut erforderlichen Anpassung der HR-Arbeit noch einmal vor Augen zu führen. Vielleicht wachen doch noch ein paar mehr Leute auf, um ihr Employer Branding und Recruitment schleunigst zu optimieren und an den neuen Arbeitsmarkt auszurichten.
Wer jetzt etwas Revolutionäres erwartet, der sollte wahrscheinlich gar nicht weiterlesen. Es geht um die Realität und meinem Fingerzeig endlich beim demographischen Wandel zu agieren und nicht mehr abzuwarten.
Hintergrundinformationen zur Studie
“Die Studie Demografischer Wandel – Status Quo und Herausforderungen für Unternehmen in Deutschland und Österreich basiert auf einer Befragung von HR- und Demografieverantwortlichen aus 116 Unternehmen aller Branchen mit insgesamt 700.000 Mitarbeitern in Deutschland bzw. 4 Mio. Mitarbeitern weltweit. Die Studie wurde nach der ersten Erhebung 2011 in überarbeitetem Design zum zweiten Mal von Towers Watson durchgeführt.”
Kernaussagen der Studie
“Der strategischen Bewältigung des demografischen Wandels schreiben 70 Prozent der Unternehmen einen wesentlichen Einfluss auf ihren künftigen wirtschaftlichen Erfolg zu. Bei zwei Drittel der Unternehmen (67 Prozent) sind demografiebedingt bereits Änderungen in der Altersstruktur der Belegschaft sichtbar, wie die aktuelle Studie von Towers Watson zeigt. Über die Hälfte (53 Prozent) klagt über Fach- und Führungskräftemangel. Dennoch hat laut der Studie erst ein Drittel (33 Prozent) demografiebezogene Maßnahmen geplant bzw. umgesetzt. Bei der Suche nach gesamtgesellschaftlichen Lösungsansätzen hoffen Unternehmen vor allem auf Zuwanderung (81 Prozent). Von der Politik fühlt sich jedoch fast kein Unternehmen genügend unterstützt (nur 5 Prozent geben hier eine positive Antwort).
Demografiebedingte HR-Risiken sehen vier Fünftel der Unternehmen (81 Prozent) in den Bereichen Talent-Management, Karriere- und Nachfolgeplanung. Drei Viertel (74 Prozent) sehen Handlungsbedarf beim Employer Branding.”
Was auf uns zukommt bzw. schon da ist und wie Unternehmen sich besser vorbereiten können, darüber sprach Dr. Reiner Schwinger, Managing Director von Towers Watson Deutschland, in einem Interview, was ich Ihnen gerne nicht vorenthalten möchte. Und denken Sie daran, nicht nur reden, auch handeln.
Interview
Herr Dr. Schwinger, Prognosen sind schwierig, denn niemand kann in die Zukunft blicken. Dennoch: Gibt es den demografischen Wandel wirklich?
Ja, diese Erkenntnis hat sich inzwischen durchgesetzt. Die Fakten kennen Sie: Die arbeitende Bevölkerung wird künftig älter und heterogener sein. In Deutschland werden insgesamt weniger Menschen leben und die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter wird kleiner sein. Das hat Folgen für das
Arbeitskräfteangebot, die Rentenkassen, die beruflichen Perspektiven vieler Menschen, kurz: für alle Bereiche der Gesellschaft. Diese Entwicklung ist nicht umkehrbar, kann aber durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine bessere Ausschöpfung des Erwerbspersonenpotenzials und durch Zuwanderung abgemildert werden.
In ca. 25 Jahren wird der demografische Wandel seinen Höhepunkt erreichen. Wie sieht die Arbeitswelt dann aus?
Die Situation wird sich für jedes Unternehmen, je nach Branche und internationaler Ausrichtung, anders darstellen. Auch jeder Mitarbeiter wird den Wandel – je nach Alter, Beruf, Lebenssituation usw. – anders erleben. Das ist aber nicht die einzige Veränderung. Parallel greifen technologischer Fortschritt, Konjunkturzyklen und weltwirtschaftliche Verschiebungen. Wenn wir das zu Ende denken, lässt sich Folgendes prognostizieren:
- Viele heutige Arbeitsplätze werden künftig besetzt werden von sehr unterschiedlichen Menschen, was Alter, Lebensphase, Herkunft usw. angeht. Belegschaften werden dann vielfältiger zusammengesetzt sein – und darauf werden Arbeitsmodelle, Produktionsprozesse usw. angepasst werden müssen. Unternehmen werden dann eher Mehrgenerationenhäusern als einem Club jungdynamischer Mittdreißiger ähneln.
- Angesichts des Fachkräftemangels werden Unternehmen versuchen, gute Mitarbeiter über das Rentenalter hinaus im Unternehmen zu halten. So wie heute schon Unternehmen und ihre Mitarbeiter mit kleinen Kindern höchst unterschiedliche Lösungen entwickeln, um Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen, so wird es künftig für die späten Arbeitsjahre kreative und flexible Modelle geben, um Personalbedarf, Leistungsbereitschaft, Belastungsfähigkeit und finanzielle Absicherung auszubalancieren – durch Teilzeittätigkeit, Teilruhestand, geänderte Aufgaben usw.
Wenn es in Deutschland künftig weniger Menschen gibt, die Produkte herstellen, aber auch weniger, die Produkte kaufen, ist das doch eigentlich kein Problem, oder?
Das wäre für ein Land nur in einer geschlossenen Volkswirtschaft richtig, das heißt wenn die Unternehmen ihre Produkte nur innerhalb der Landesgrenzen absetzen und Verbraucher auch nur Produkte „made in Germany“ kaufen würden. Tatsächlich lebt die deutsche Wirtschaft wesentlich von Export und Import. Und ganz problemlos wäre es aus gesamtwirtschaftlicher Sicht auch im Fall der geschlossenen Volkswirtschaft nicht: Für Unternehmen ebenso wie für Konsumenten würde in diesem Szenario der Wandel einen erheblichen Anpassungs- und Schrumpfungsprozess bedeuten, weil sich sowohl Produktions- als auch Konsumstrukturen grundsätzlich ändern würden. Vor dieser – auch volkswirtschaftlichen – Rosskur schützt uns die globale Vernetzung.
Kurz: Der demografische Wandel ist kein nationales, sondern ein weltweites Phänomen, das auch in einer weltweit vernetzten Wirtschaft gelöst werden wird. So wird ein Teil der hiesigen Arbeitsplätze vielleicht künftig an anderen Orten in der Welt besetzt werden. Unternehmen werden überprüfen, welche Tätigkeiten tatsächlich vor Ort erledigt werden müssen – zum Beispiel Autoreparaturen oder die Krankenpflege – und welche nicht ortsgebunden sind, beispielsweise das Ausfüllen von Steuerformularen, die Entwicklung von Computerprogrammen usw. Daneben müssen wir bedenken, dass die Finanzierung unserer Renten, Krankheitsvorsorge und unserer Staatsfinanzen – Stichwort: Umlagefinanzierung der Rentenkassen und Schuldenfinanzierung der öffentlichen Haushalte – im Grundsatz auf wachsende oder zumindest gleichbleibende Bevölkerungszahlen abgestellt ist. Fehlen auf Dauer Beitrags- und Steuerzahler, tun sich unüberbrückbare Lücken auf.
Wie reagieren die Unternehmen auf die absehbaren Veränderungen? Stellen sie beispielsweise angesichts des kommenden Fachkräftemangels Mitarbeiter „auf
Vorrat“ ein?
Das wird nicht funktionieren – eine heutige Überbelegung wird nicht einen künftigen Mangel kompensieren. Vielmehr sollten Unternehmen jetzt überlegen, wie Arbeitsprozesse künftig gestaltet werden sollen, das heißt welche Tätigkeiten vor Ort und welche auf dem weltweiten Arbeitsmarkt erledigt werden können. Darauf müssen die strategische Personalplanung und sämtliche Folgefragen abgestimmt werden. Es hilft nicht, einzelne Schrauben festzuziehen –
die gesamte Konstruktion muss neu durchdacht werden.
Bis jetzt sind zwei Drittel der Unternehmen allerdings nicht über die Informationssammlung und -analyse hinausgekommen, wie die aktuelle Demografiestudie von Towers Watson zeigt. Lediglich ein Drittel hat bereits konkrete Demografieprojekte geplant und umgesetzt.
Was bedeutet der demografische Wandel für die einzelnen Mitarbeiter?
Das lässt sich nicht pauschal sagen, weil die Veränderungen die Menschen in unterschiedlichen Arbeits- und Lebensphasen treffen.
- Heutige Berufseinsteiger werden angesichts des Fachkräftemangels häufig aus einer Vielzahl unterschiedlicher Jobangebote wählen können. Sie werden sich aber auch auf einem Arbeitsmarkt bewegen, der sehr viel stärker internationale Dimensionen hat als heute. Sie werden später in den Ruhestand treten und viel stärker selbst für ihre Rente vorsorgen müssen. Gleichzeitig werden sie die Renten der Baby-Boomer mitfinanzieren müssen. Die Themen Generationenvertrag und Generationengerechtigkeit werden sie also beschäftigen.
- Viele Mitarbeiter, die heute Mitte 50 sind und auf ein komfortables Frühverrentungsprogramm gehofft hatten, werden wohl enttäuscht werden. Aber sie
werden auch stärker als die vorangehenden Generationen erleben, dass sie im Arbeitsleben gebraucht werden.
- Karriereverläufe werden sich wandeln. Die Menschen werden vermutlich nicht mehr unbedingt vom Höhepunkt ihrer Karriere aus in den Ruhestand wechseln. Vielmehr werden sie in ihrem Berufsleben mehr unterschiedliche Positionen und Aufgaben ausfüllen, als es bei traditionellen Karrieren der Fall war. Intensive Arbeitsphasen werden sich mit zeitweilig weniger intensiven Arbeitsphasen – zum Beispiel Familienzeiten oder Weiterbildungsphasen – abwechseln. Der Ruhestandsbeginn wird weniger durch einen Zeitpunkt, sondern eher durch einen Zeitraum markiert, in dem die Arbeitsbelastung schrittweise zurückgefahren wird.
- Nur diejenigen, die schon heute im Ruhestand sind, werden den demografischen Wandel ausschließlich aus der Beobachterperspektive verfolgen können. Alle anderen sind Beteiligte.
Mehr Infos zur Studie erhalten Sie per E-Mail bei Ulrike Lerchner-Arnold.
Ich stimme damit überein, dass der Fachkräftemangel bei vielen -leider- noch nicht „angekommen“ ist.
Allerdings sehe ich in der „Vorratseinstellung“ (welch schreckliches Wort) ein geeignetes -wenn auch nicht perfektes- Mittel für klein- und mittelständische Unternehmen. Wie soll denn ein fünf – zehn Mann Betrieb, alle Prozesse umstrukturieren und „Tätigkeiten auf dem Weltmarkt erledigen“, Herr Dr. Schwinger? Oft sind doch gerade bei den KMU`s die Mittel für Employer Branding, Social-Media-Kampagnen oder Videoauftritte beschränkt.
Ich denke auch, dass es nicht immer „DIE“ Demografie-Maßnahme sein muss. Durch Mentoring oder Patenschaften innerhalb von Unternehmen können z. B. die Älteren mit den Jüngeren den Wissenstransfer gewährleisten und die Kommunikation fördern. Ausserdem entfällt durch diesen Nutzen eine kleine Hürde bei der Einstellung von Älteren Mitarbeitern oder durch das Mentoring; entfällt die Hürde bei der Einstellung von ausländischen Fachkräften. Dazu die Einstellung von Frauen mit Kindern = Vereinbarkeit Beruf und Familie. Solche „einfachen“ Dinge sind nicht teuer, leider aber noch zu unbekannt. Viele KMU`s, so unsere Erfahrung, lassen sich in ihr Schicksal fallen und handeln dann erst (wenn es wahrscheinlich zu spät ist), weil sie denken das es zu teuer ist.
Den Begriff der „Mehrgenerationenhäuser“ in Unternehmen finde ich übrigens sehr passend und bin gespannt wie das aussehen wird…